Windows 8 – eine Totgeburt?

“Windows 8 wird ein Fiasko in der Größenordnung des Vista-Reinfalls”, meint Stephen J. Vaughan-Nichols – und liegt damit vielleicht gar nicht so daneben. Er denkt, dass es auch 2016 bestimmt mehr Nutzer geben wird, die mit Windows 7 arbeiten als solche, die Windows 8 verwenden. “Dead on arrival” nennt man solche Produkt-Desaster in den USA. Wegen des Misserfolgs von Vista musste Microsoft seinerzeit die Unterstützung für XP verlängern. Wegen Windows 8 wird dies vermutlich auch mit Windows 7 geschehen.

ITespresso-Leser stehen dem neuen Windows ebenfalls eher ablehnend gegenüber, ergab eine Umfrage im April. Vielen erschlossen sich die Vorteile der Neuerungen nicht – und das nachdem es schon zahlreiche Artikel und Besprechungen der “Consumer Preview” genannten Beta gegeben hatte.
Gartner-Analyst Gunnar Berger urteilte im Sommer, das neue Windows tauge nicht für den Einsatz in Unternehmen. Und Marco Arment US-Technologieexperte und Gründer von Instapaper, hat sich eher zufällig am Tag des Verkaufssatrt des Surface-Tablets mit Windows RT einen Eindruck verschafft – der sowohl für den Windows-8-Ableger Windows RT als auch das “Go-To-Market”, wie es die Amerikaner nennen, des Konzerns aus Redmond äußerst ungünstig ausfiel.
Kritiken, Gründe und Hinweise gibt es also genug, Windows 8 als Totgeburt zu bezeichnen. Sie lassen sich ganz konkret in fünf Punkten zusammenfassen.
Niemand braucht Windows 8 auf dem Desktop
Viele Versprechungen Microsofts für signifikante Verbesserungen laufen ins Leere. Schnelleres Laden des Systems? Das können auch viele Linux-Distributionen samt grafischer Oberfläche, unter anderem Ubuntu, Suse oder Red Hat mit passenden KDE- oder Gnome-Oberflächen. Auch Mac OS X ist beim Booten schneller als Windows 8. Und nicht zu vergessen Windows 7 mit SSD-Drive, Hyridlaufwerk und viel Cache kann das auch.
Und live booten vom USB-Stick? Oder die Refresh- und Reset-Funktionen? Das wäre bei objektiver Betrachtung gerade Mal einen Service-Patch für Windows 7 wert gewesen, nicht aber ein vollkommen neues Betriebssystem.
Sinnlose Bedienoberfläche
“Metro Style” nannte Microsoft seine neue Oberfläche und Bedienerführung. Natürlich, ohne zu wissen, dass es einen gleichnamigen Konzern im deutschsprachigen Raum gibt. Sinnlos ist also schon der Name. Im Marketing hat Microsoft die Bezeichnung in “Windows 8-style UI” gewandelt, wie ein möglicher Markenzeichen-Konflikt ausgehen mag, steht noch nicht fest. Laut Microsoft war Metro “nur ein Name für das Projekt”, nicht etwas Endgültiges. Es war zwar merkwürdig, aber allemal besser als das sperrige “Windows 8-style UI” – und Autos heißen ja – entgegen aller Logik – schließlich auch Golf oder Fiesta -und die Verbraucher haben sich daran gewöhnt.

Auch rein betriebswirtschaftlich kündigt sich ein Fiasko an: Das Umlernen vieler Mitarbeiter auf das neue Windows kostet Geld für Umschulungen – und für Produktivitätsausfall durch sinnentleerte Herumklickerei auf der Suche nach Funktionen. Denn anders als in vorherigen Windows-Versionen kann ein stufenweises Umlernen nicht mehr stattfinden – wer Windows 95 benutzte, kann auch noch mit Windows 7 umgehen (oder XP, Vista und merkwürdigen Variationen wie seinerzeit Windows 98 oder Windows ME).
Doch wer Windows 8 sieht, ist erst einmal vor den Kopf gestoßen. Nicht einmal mehr einen Start-Knopf gibt es, und den Desktop hat Microsoft auch abgeschafft – auch auf diversen Veranstaltungen kam es immer wieder zu Publikums-Einwürfen, die die Microsoft-Mitarbeiter aber immer geschickt mit ablenkenden Worten umschifften.
Auch die Fenster-Verwaltung ist eine völlige Abkehr vom Gewohnten – die “Windows” lassen sich nicht mehr in der Größe verändern. “Back to the Future”? Das hatten wir zuletzt in Windows 1.0! Usability Expertin Raluca Budiu von der Nielsen-Norman Group fasst das alles in die passenden Worte: “Windows 8 ist eine kognitive Belastung”.
Das Problem mit den Apps
Zwar haben mittlerweile viele Softwareunternehmen ihre Produkte so umgebaut, dass sie unter Windows 8 laufen – das nennt sich bei den meisten “Windows-8-ready” – und dass sie als kleine rechteckige Icons für den Bildschirmraum bereitstehen, den man früher “Desktop” nannte, der aber jetzt keiner mehr ist.
Doch an den Applikationen selbst hat sich meist nicht viel geändert – die Bedienung ist wenig an das neue Windows-8-Feeling angepasst, nur wenige Apps bringen Verbesserungen mit sich, die die neue Oberfläche sinnvoll verwenden. Im Grunde sind Applikationen eben dafür gebaut, dass man mit ihnen arbeitet – ganz gleich welches Betriebssystem dahintersteckt.
Manche Softwareunternehmen versuchen sogar, dem “neuen” Windows vertraute Arbeitsweisen mit ihren Tools beizubringen, so etwa das Programm “DirectoryOpus” für den effektiven Umgang mit Dateien. Selbst Microsoft musste seine eigenen in Windows 8 mitgelieferten Apps noch einmal anpassen, um deren Kinderkrankheiten (Instabilität, Bedienungsprobleme und so weiter) zu beseitigen.
Dass Microsoft an allen Verkäufen über den Windows Store teilhaben will, ist nicht gerade ein Motor, der Softwareunternehmen antreibt, Produkte nur über diesen Microsoft-Kanal anzubieten. Denn die Partner im Microsoft-Ökosystem sind das anders gewohnt. Kurzum: Der Microsoft Store ist, anders als Apples AppStore für iOS, kein halbwegs vollständiger Katalog von erhältlichen Anwendungen.
Immerhin sieht Microsoft auch, dass die Ausstattung mit Anwendungen wichtig ist und packt etwa Skype in spezieller Windows-8-Version dazu und vermittelt Software-Anbieter an OEMs, damit diese möglichst viele Anwendungen auf ihren Windows-8-Geräten vorinstallieren.
Irritierte Software-Entwickler
Windows-Programmierer haben Jahre gebraucht, um sich in .Net einzuarbeiten, in die Windows Communication Foundation (WCF) und die Windows Presentation Foundation (WPF), und plötzlich müssen sie sich mit total unterschiedlichen Systemstrukturen für das Intel-Windows-8 und das ARM-Windows RT beschäftigen. Dazu müssen sie noch Jupiter/XAML verarbeiten – also eine Ebene mehr zwischen System und Anwender.

Steven J. Vaughan-Nichols fasst Kritiken vieler Entwickler in kurze böse Worte: “Windows 8 steckt noch immer in den Windeln”. Noch viel schlimmer findet er, dass für Windows 8 entwickelte Software nicht so schnell auf den traditionellen Desktop umgeschrieben werden kann. Viele Chancen, dass Windows 8 aus Entwicklersicht “erwachsen” wird, sieht er nicht: “Wie nennen Sie ein Betriebssystem ohne Entwickler und Applikationen? Die Antwort: tot.”
Das falsche System zum falschen Zeitpunkt
Microsoft gräbt sich offenbar sein eigenes Grab. Für Desktop-Nutzer ist Windows 8 nicht geeignet. Alles Sinnvolle daran ist für Touchscreens ausgelegt – also für Tablets und Smartphones. Doch in diesem Bereich gibt es bereits zwei Betriebssystem-Kampfhähne: Android und iOS. Das kleine Küken Microsoft, das sich piepsend den Großen annähert, wird bei der Revierverteidigung bestimmt nicht mehr ernstgenommen. Das Apple- und das Google-System sind beide schon erwachsen, Windows 8 steckt noch in den Kinderschuhen.
Gut, Windows 8 ist noch immer nicht erwachsen, und nachdem viele Nutzer und Unternehmen gerade erst auf Windows 7 aufgerüstet haben – oder dabei sind, weil sie das demnächst nicht mehr supportete Windows XP ablösen müssen, muss Microsoft noch ordentlich etwas drauflegen, um den professionellen Anwendern einen echten Grund zum Umstieg zu geben.
Im privaten Umfeld sieht das anders aus, da kann Windows 8 durchaus einige Vorteile bieten. Und zugutehalten muss man Microosft auch, dass es trotz der nahezu zwanghaften Fokussierung auf “Touch” bei Windows 8 einige Verbesserungen unter der Haube vorgenommen hat, die sich sehen lassen könnne und in die richtige Richtung gehen – damit es dann vielleicht bei Windows 9 klappt.