Tim Cole: Ende der Eintagsfliege
Leute, die bekannt sind »wie ein bunter Hund« gibt es in jeder Branche. In der IT-Branche gehört der Publizist Tim Cole dazu. Seitdem er 1999 sein Buch »Erfolgsfaktor Internet« veröffentlicht hat, wird er immer wieder gebeten zu Themen aus Wirtschaft, Technik und Management Stellung zu nehmen.
Sein Terminkalender weist ihn als gefragten Vortragsredner aus. Zu seinen Spezialthemen gehören beispielsweise Sicherheit und Identity Management. Zu Letzterem veranstaltet Cole im Mai die European Identity Conference in München.
Nachfolgend die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den Tim Cole anlässlich der Verleihung des Innovationspreises 2009 auf der CeBIT gehalten hat. Vergeben wurde der Preis von der Initiative Mittelstand. Die Redaktion eWEEK war ebenfalls Teil der Jury.
Ich war heuer zum 28sten Mal auf die CeBIT noch zwei Jahre bis zur goldenen Ehrennadel, also – aber ich habe mich dieses Jahr ernsthaft gefragt, ob ich nicht zu Hause bleiben soll. Warum? Weil ich irgendwie das Gefühl hatte, es lohnt sich nicht. Wo sind denn die Neuheiten? Ist das nicht alles schon mal dagewesen? Wo bleiben die echten Innovationen?
Früher war das anders. Auf der weltgrößten Technikmesse wurden Durchbrüche gefeiert wie das erste Faxgerät, die allerersten PCs, die CD-ROM, das Handy und sogar das Internet, Web 1.0 und 2.0. Und heute? Martin Jetter, Deutschlandchef von IBM, hat kürzlich die Messeneuheit zum Auslaufmodell erklärt: »Es geht heute nicht mehr um Innovationen, sondern um Lösungen.«

»Bill Gates war gut darin, voll daneben zu liegen und sich am Ende doch noch eine goldene Nase zu verdienen.« Tim Cole
Statt großer Sprünge nur noch inkrementeller Fortschritt, Evolution statt Innovation? Wo sollen die armen Fachjournalisten da noch ihre Schlagzeilen herholen?
Tanz ums Goldene Kalb
Na, ganz so schlimm ist die Sache wohl doch nicht. Warum aber nehmen viele in- und außerhalb der IT-Branche sie so wahr? Nun, meine Erklärung ist, dass echter technischer Fortschritt – im Gegensatz zum marktschreierischen Tanz um das goldene Kalb der Messeneuheit – sich eher langsam vollzieht – so langsam, dass er fast unsichtbar zu sein scheint.
Was im Übrigen auch menschlicher Kurzsichtigkeit geschuldet sein könnte. Der Berliner Medienphilosoph Norbert Bolz sagte neulich: »Erst in der Rückschau wird einem klar, welch grundlegender Wandel sich beispielsweise in den letzten zehn Jahren vollzogen hat. Laptops, Smartphones und Wireless-Internet haben die Menschen und ihre Art, zu leben und zu arbeiten, so radikal verändert wie kaum zuvor eine technologische Entwicklung, aber wir nehmen es kaum wahr.« Und das, obwohl das Fortschrittstempo laufend zunimmt:
Amerikanische Wissenschaftler sprechen schon von einer »Age of Acceleration«, einem beschleunigten Zeitalter – und die treibende Kraft ist die Technik.
Echte Innovationen sind schwer zu erkennen
Das macht es nicht gerade leicht, echte Innovationen zu erkennen. Die Technikgeschichte ist ja gepflastert mit falschen Voraussagen – die meisten davon kennen Sie ja. Bill Gates war immer gut darin, voll daneben zu liegen und sich am Ende doch noch eine goldene Nase zu verdienen.
Bitte keine Trendvorhersage
Gerade weil man sich so unsterblich blamieren kann, beteilige ich mich ungerne an der Trendvorhersage. Aber andererseits kann ich nach drei Tagen Messerundgang schon ein paar Dinge aufzählen, die ich als nachhaltige Trends bezeichnen würde. Dazu gehören mit Sicherheit Mobilität (»Internet in der Westentasche«), digitale Identität, Identity Management und das Ende des Identitäts-Chaos im Internet, oder Dynamic Services (»IT auf dem Weg zur Industrialisierung«).
Im Gegensatz zu einigen anderen Beobachtern halte ich auch das so genannte Modethema »Green IT« für einen Dauerbrenner, der die IT- und Kommunikationbranche noch lange beschäftigen wird. Und hinter dem Hype-Thema dieser CeBIT, nämlich Cloud Computing, steckt auch eine nachhaltige Entwicklung, nämlich die Neubewertung der Rolle von Rechenzentren zur Sicherstellung von flexiblen, skalierbaren und praxisnahen Lösungen, die das Business unterstützen und beflügeln sollen.
Mittelstand braucht ergebnisorientierte IT
Womit wir beim eigentlichen Punkt wären: Gerade weil IT heute nicht mehr als Selbstzweck, als technische Spielwiese für Nerds und Geeks sondern als verlängerter Arm des Business begriffen wird, ist ihre Sichtbarkeit eine andere geworden. Ich hoffe, dass auch das Selbstverständnis in der IT sich in dieser Richtung weiter entwickeln wird, denn gerade der Mittelstand braucht eine innovative und ergebnisorientierte IT, wenn sie im Wettbewerb bestehen will.
Lesen Sie auf Seite 2: Web 2.0 als einmalige Chance
IT muss lernen wie ein Geschäftsmann zu denken
Das »Business des Business ist Business«, lautet ein amerikanisches Sprichwort. Das Business des Mittelstands ist nicht IT. Jede Innovation, die es ihm erlaubt, sich stärker auf seine Kernkompetenzen zu konzentrieren, ist deshalb zu begrüßen. IT muss lernen, wie ein Geschäftsmann zu denken. Nur dann ist sie aus Sicht des Mittelstands ein ernst zu nehmender und zuverlässiger Partner.
Für die IT heißt das, in Manndeckung gehen, ganz nah dran bleiben beim Mittelstand und seinen Bedürfnissen. Aber jedes kleine und mittlere Unternehmen ist anders. Globale Lösungspakete und Applikationssuiten scheren alle über einen Kamm und zwingen den Mittelstand, sich der IT anzupassen statt umgekehrt.
Web 2.0: Einmalige Chance für den Mittelstand
Die Antwort könnte das Mitmach-Internet sein, das partizipatorische Web, das es jedem einzelnen User erlaubt, sich Gehör zu verschaffen, seine Wünsche anzumelden, sich in Szene zu setzen und ungehemmt zu kommunizieren.

»Jeden Tag neue Beispiele, wie kleine Unternehmen erfolgreich Web-2.0-Techniken in ihr Geschäftsmodell einbauen.« Tim Cole bei der Preisverleihung des Innovationspreises 2009.
Ich verwende ungern die Vokabel »Web 2.0« weil es nicht wirklich ein neues Web ist, sondern die Realisierung der Hoffnungen und Versprechen aus dem Original World Wide Web, aber jetzt mal ausnahmsweise: Web 2.0 ist für den Mittelständler die einmalige Chance, IT-Lösungen und Leistungen zu finden oder maßschneidern zu lassen, die wirklich genau seine ganz besonderen Bedürfnisse erfüllen.
Twitter-Nachricht für Feinschmecker
Der Mittelstand steht beim Thema Web 2.0 noch ganz am Anfang, aber jeden Tag hört man neue Beispiele, wie kleine Unternehmen erfolgreich solche Techniken wie Wikis, Blogs, Communities oder Twitter in ihr Geschäftsmodell einbauen.
Gerade gestern habe ich über Roy Choi aus Los Angeles gebloggt, ein Koreaner, der sein stationäres Restaurant aufgegeben hat und mittlerweile in einem umgebauten Reisemobil kocht, mit dem er durch die Straßen der Stadt fährt, um seine »Fusion Cuisine« aus koreanischen und mexikanischen Zutaten – gegrillte Schälrippchen in Sesam-Chili-Salsa oder Blutwurst mit Kimchi als Taco – dort anzubieten, wo seine Kunden sind, zum Beispiel mittags auf dem Universitäts-Campus der UCLA oder abends vor den angesagten Bars und Clubs in Beverly Hills.
Damit ihn die Feinschmecker finden, setzt er in regelmäßigen Abständen eine Twitter-Nachricht über seinen Blackberry ab, und schon machen sich die Menschen auf die digitale Schnitzeljagd. Twitter, das ist nicht zu übersehen, macht off
enbar Appetit!
Viele Ideen bilden eine große Innovation
Solche Ideen, die kleinen Firmen wirklich nützen, stammen in der Regel von anderen kleinen Firmen, und der Innovationspreis IT ist dafür der eindrucksvolle Beweis, dass dieses System wirklich funktioniert. Viele kleine Ideen können sich mit der Zeit im Sinne von Norbert Bolz zu großen Innovationen anhäufen.
(Tim Cole/mt)
Weblinks
Homepage Tim Cole
Tim Cole bloggt auf Cole.de
Innovationspreis 2009
Identity Management

Zum Expertenbeirat von eWEEK europe zählen neben Tim Cole auch weitere hochrangige Experten wie der Innovationsberater Tom Groth, der Internet-Guru Ossi Urchs und Ex-IBM-Chef Richard Seibt.