Europas unbekannte IT-Standorte: Silicon-Valley am Bosporus

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(Bild: shutterstock / refleXtions)

Das Jahr 2023 hat für die nationalstolzen Türken eine besondere Bedeutung. Dann wird die Türkei 100 Jahre. Bis zu diesem Zeitpunkt will sich das Land nach dem Willen der derzeitigen Regierung zu einem Musterschüler im europäischen Wirtschaftraum entwickelt haben. Mit der “Vision 2023”, so der Name des ehrgeizigen Vorhabens, will das Land dann zu den Top-Ten der weltweit größten Volkswirtschaften zählen. Im Moment liegt die Türkei auf Platz 17. Die Informations- und Kommunikationstechnologie (ITK) soll zu den Fortschritten einen entscheidenden Beitrag leisten. Zurzeit trägt die ITK 1 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. In zehn Jahren soll der Anteil auf 8 Prozent angestiegen sein.

IT Valleys als Wachstumsbeschleuniger

Diese Ziele sind recht ambitioniert, wenn nicht gar nach Meinung von Wirtschafts-Experten überzogen und irreal. Dennoch sind sie nicht völlig aus der Luft gegriffen. “Der türkische Markt für Informations- und Kommunikationstechnologien erscheint trotz des seit 2012 abgeschwächten Wirtschaftswachstums weiterhin wachstums- und zukunftsträchtig”, erklärt Necip Bagoglu von Germany Trade and Invest, der Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing der Bundesrepublik Deutschland.

“Das Marktvolumen von schät-zungsweise 32 Milliarden Dollar in 2012 wird 2013 voraussichtlich um durchschnittlich 4 bis 5 Prozent expandieren. Von der Gesamtsumme betreffen etwa ein Drittel die IT- und zwei Drittel die KT-Sparte. Während für den KT-Bereich 2013 ein Wachstum von bestenfalls drei Prozent erwartet wird, dürfte sich die Expansion im IT-Bereich auf schätzungsweise 12 bis 15 Prozent belaufen.”

Gebäude des Gebze Institut of Technolgy in Muallimköy (Bild: Architektenbüro Alp Mimarlar).
Gebäude des Gebze Institut of Technolgy in Muallimköy (Bild: Architektenbüro Alp Mimarlar).

Um die ITK im eigenen Land weiter zu stärken, hat die Regierung ein Förderungsprogramm zu Schaffung von IT Valley erlassen. Im Januar 2011 kündigte der türkische Industrieminister Nihat Ergün den Bau von drei High-Tech-Zonen an. Die erste entsteht in der Industrieregion Kocaeli östlich des Maramarameeres. Auf 1600 Hektar bietet das Gebiet in Muallimköy etablierten Unternehmen und Start-Ups bevorzugte Entwicklungsmöglichkeiten.

Vorteilhaft dürfte auch die Nähe zum Gebze Intsitut of Technology sein. Das sollte schon in den 90er-Jahren einmal zu einem türkischen Pendant des MIT in Boston ausgebaut werden – wobei damals die Pläne wohl zu hochfliegend waren. Inzwischen ist es aber eine anerkannte Bildungseinrichtiung – und hat erst kürzlich die Auszeichnung als beste Hochschule der Türkei erhalten.

Weitere “Valleys” entstehen in Ankara und Izmir. “Die IT Valleys locken die Unternehmen mit niedrigen Mieten und Gründstücke werden zu günstigen Konditionen angeboten”, sagt Dr. Ahmet Dener. Dener begleitet seit acht Jahren deutschsprachige Unternehmen, die in der Türkei Fuß fassen wollen. “Außerdem sind sie von sämtlichen Steuern befreit, Lohnnebenkosten übernimmt der Staat zu 50 Prozent.”

In- und ausländische Unternehmen

Die wachsende Rolle der Türkei als Produktionsstandort technologisch anspruchsvollere Waren hat in- und ausländische Akteure auf den Plan gerufen. Laut Germany Trade and Invest gehören dazu frühe Start-ups wie die Firma Casper, 1991 von drei Hochschulabsolventen gegründet und die heute rund eine Million Computer im Jahr herstellt und erfolgreich unter eigenem Namen verkauft.

Dazu gehörten aber auch die in der Türkei einflussreichen Holdings, wie die Yildiz Holding, die 1994 die Firma Exper lanciert hat, oder die Koc-Gruppe, die mit den Elektrogeräte-Marken Arcelik und Beko längst auch in den Bereich Unterhaltungselektronik und IT vorgestoßen. Die werden nach der Übernahme des deutschen Traditionsunternehmens unter der Marke Grundig vertrieben.

Die türkische Firma Casper verkauft überaus erfolgreich Computer - und ist in allem wie man auch ohne Sprachkenntnisse sehen kann, durchaus auf der Höhe der Zeit (Screenshot: ITespresso).
Die türkische Firma Casper verkauft überaus erfolgreich Computer – und ist, wie man auch ohne türkische Sprachkenntnisse unschwer sehen kann, durchaus auf der Höhe der Zeit (Screenshot: ITespresso).

Die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte listete 2011 unter den 500 wachstumsstärksten Unternehmen 140 türkische, das sind 28 Prozent. 2012 schafften es das Tele-kommunikationsunternehmen Elkotek Ìletişim und der Softwarehersteller Tektronik unter die ersten sechs. Für dieses Jahr rechnet Germany Trade and Invest jedoch mit einer Konsolidierung des Marktes mit Pleiten, Übernahmen und Fusionen.

Auch internationale Konzerne nutzen die Türkei vermehrt als regionales Zentrum, von dem nicht nur der einheimische Markt bedient wird, sondern auch die umliegenden Länder des nahen Ostens, Zentralasiens und Osteuropas. Dazu gehört neben Logistik zum Teil Fertigung oder Montage von elektronischen Geräten. Allein in den letzten Jahren haben Unternehmen wie HP, Foxconn, Huawei, Microsoft, Toshiba, Siemens, Wipro und Ericsson die Türkei als Drehscheibe für die Betreuung der Märkte der weiteren Region ausgebaut.

“Ausländische Firmen liegen bei den Türken als Arbeitgeber hoch im Kurs”, sagt Berater Dener. “Das hat einen einfachen Grund. Türkische Unternehmen zahlen nur unregelmäßig Gehälter. Ausländische hingegen pünktlich jeden Monat.” Insbesondere deutsche Unternehmen seien sehr attraktiv für Türken, die in Deutschland aufgewachsen sind und in ihre zweite Heimat zurück wollen.

Starker Binnenmarkt

Doch nicht nur die von öffentlicher Seite ge-plante Gewerbe- und Technologiezonen, verleihen nach Angaben der Germany Trade and Invest der IT-Branche in der Türkei den Aufschwung. Es sei auch die dynamische wirtschaftliche Entwicklung und vor allem der große Binnenmarkt. Die Türken sind mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren ein sehr junges Land, die Geburtenrate ist hoch und die jungen Menschen zeigen sich sehr aufgeschlossen gegenüber neuer Technik und sozialen Medien.

“Der Einsatz intelligenter Smartphones steigt kräftig”, sagt Analyst Bagoglu, “und die rasante Verbreitung des mobilen Internets bietet eine ideale Grundlage für einen starken Nachfrageschub. Die Rate der Marktdurchdringung mit Smartphones bezogen auf dengesamten Mobiltelefonbestand lag Mitte 2012 bei rund 16 Prozent. Bis 2015 wird hier mit einer Penetrationsrate von 40 Prozent gerechnet. Logische Folge: Der Breitband-Internet-Markt wächst kräftig. Bei der Internet-Nutzung spielt das mobile Internet eine immer größere Rolle. Mit zunehmenden 3G-Einsatz nimmt der Internet-Zugang über Mobilfunk zu Ungunsten der PCs deutlich zu.

Die Voraussetzungen für die ehrgeizigen Ziele der Türkei zur einer europäischen IT-Wirtschaftsmacht aufzusteigen sind günstig – schaun mer mal in 10 Jahren wieder vorbei.

Die ITespresso-Serie “Europas unbekannte IT-Standorte”

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