Netzneutralität: Regelungen des EU-Parlaments lassen Schlupflöcher

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EU-Parlament Straßburg (Bild: EU-Parlament)

Beispielsweise sind “Überholspuren” für “spezialisierte Dienste” erlaubt. Auch Zero-Rating – also Dienste von einer Volumenbegrenzung auszunehmen – wird nicht untersagt. Kritiker fürchten daher, dass ISPs künftig über Erfolg und Misserfolg von Internetunternehmen entscheiden könnten.

Das EU-Parlament in Straßburg hat neue Regeln für das Internet in Kraft gesetzt, jedoch eine Reihe eingebrachter Änderungen abgewiesen, die das Prinzip der Netzneutralität zementieren sollten. So genannte “Überholspuren” für “spezialisierte Dienste” sind somit erlaubt. Auch das sogenannte “Zero-Rating”, bei dem es sich um eine Klassifizierung von Apps oder Diensten handelt, die nicht auf eine Volumenbegrenzung angerechnet werden, wird nicht prinzipiell untersagt.

EU-Parlament Straßburg (Bild: EU-Parlament)

Die Regelung gesteht jedem Europäer das Recht auf Zugang zum offenen Internet zu. Mit wenigen Ausnahmen sind somit Blockaden und Drosselungen jeglicher Art verboten. Telekommunikationsdienstleister dürfen somit Online-Mitbewerber wie Skype oder Facetime nicht blockieren.

Jeglicher Datenverkehr muss überdies gleich behandelt werden. Priorisierung gegen Bezahlung ist ebenfalls untersagt. Zu den Ausnahmen gehören “vernünftiges, alltägliches Traffic-Management”. Aber auch “spezialisierte Dienste”, die “zusätzlich zum offenen Internet” offeriert werden, dürfen priorisiert werden. Das sollte also zum Beispiel für die IPTV-Plattform “Entertain” der Deutschen Telekom gelten.

Erstmals treten mit der Entscheidung europaweit gültige Regeln zur Netzneutralität in Kraft – allerdings in einer Form, die dieses Prinzip durch Ausnahmen eigentlich aufweicht. Unter dem Begriff der Netzneutralität versteht man die strikte Gleichbehandlung sämtlicher Internetdaten.

Die Parlamentarier ignorierten mit ihrer Entscheidung Bedenken von Netzaktivisten udn Internetfirmen, die sich in den vergangenen Tagen noch einmal nachdrücklich für strengere Ergänzungen ausgesprochen hatten. Sie verweisen dabei auch auf die USA, wo die im Februar von der verantwortlichen Behörde FCC eingeführte Neuregelung, jegliche Priorisierung von Datenverkehr verbietet. Das habe sich bereits positiv auf den Wettbewerb ausgewirkt.

Befürworter der “Überholspuren” vertreten laut The Verge allerdings die Meinung, dass diese zum Beispiel für eine Priorisierung der Daten selbstfahrender Autos oder für medizinische Eingriffe aus der Ferne sinnvoll sind.

Tim Berners-Lee sprach sich im Vorfeld dagegen für ein grundsätzliches Verbot von Traffic-Klassen aus, mit denen ISPs steuern, welche Anwendungen sie priorisieren und welche sie drosseln. Dies wirke sich besonders ungünstig auf Verschlüsselung aus, sagte der Web-Pionier: Verschlüsselter Traffic werde oft vollständig einer Klasse zugeordnet und diese dann gedrosselt. Zero-Rating gibt ISPs seiner Ansicht nach die Möglichkeit, über Erfolg oder Misserfolg von Online-Anbietern und deren Diensten zu entscheiden. The Verge zufolge könnte ein Provider beispielsweise einen Deal mit Apple vereinbaren, durch den dessen Musik-Streamingdienst Apple Music von einer Drosselung beziehungsweise Anrechnung auf die Volumenbegrenzung ausgenommen wird.

Drosselung (Bild: Shutterstock/PhotographyByMK)

Von Netzaktivisten und Branchenorganisationen kommt daher teils vernichtende Kritik am Beschluss des EU-Parlaments. “Mit der heutigen Entscheidung opfert das EU-Parlament das freie und offene Netz in Europa den Gewinninteressen einiger weniger Telekommunikationskonzerne”, erklärt etwa Alexander Sander, Geschäftsführer des Vereins Digitale Gesellschaft. Sie schade damit der Innovationskraft des Internet, der Meinungs- und Informationsfreiheit in ganz Europa. Grund seien unter anderem “die verheerenden Rechtsunsicherheiten in dem Gesetz.” So hätten die Abgeordneten die unscharfe Definition der Spezialdienste ebenso unkritisch durchgewinkt wie die vagen Voraussetzungen für Drosselungen. Außerdem fehle ein Verbot von Preisdiskriminierungen.

Sander weiter: “Damit erodiert das Parlament eines der grundlegenden Funktionsprinzipien des Internet. Zugleich ebnet es den Weg in ein Zwei-Klassen-Netz, in dem Innovationen gebührenpflichtig sind und Grundrechte wie die Meinungs- und Informationsfreiheit von der Willkür der Provider abhängen.”

Derselben Ansicht ist auch Stephan Goericke, Hauptgeschäftsführer des Arbeitskreis Software-Qualität und –Fortbildung e.V. (ASQF): “Mit dem neuen EU-Gesetz wird das Zweiklassen-Internet vorangetrieben und die Vielfalt des Netzes immer weiter eingeschränkt. Kommunikative Freiheiten wie wir sie bisher kannten, wird es nicht mehr geben.” Er fürchtet, dass durch die EU-Verordnung für die Unternehmen in der Softwareentwicklungsbranche zusätzliche Kosten entstehen. Da dem Gesetz eine konkrete Eingrenzung von Begrifflichkeiten fehle, lasse es viele Fragen offen und stelle ein unkalkulierbares Risiko.

“Kostenpflichtige Spezialdienste, der Grundstein für das Zweiklassen-Internet, könnten künftig nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellen”, so Goericke weiter. Das werde sowohl für Nutzer als auch Anbieter spürbare Folgen haben. Für Start-ups bedeute es vor allem höhere Hürden beim Markteintritt, weil sie sich die teuren “Überholspuren” für ihre Innovation kaum leisten können.

Etwas weniger dramatisch bewertet der Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi) das Ergebnis der Abstimmung. “Das Hauptanliegen des IT-Mittelstandes ist, dass das Internet ein neutraler Wettbewerbsraum bleibt. Darum sind wir froh, dass alle Beteiligten das Best-Effort Prinzip beim Thema Netzneutralität als Grundlage für die Regulierung digitaler Netzwerke in Europa sehen”, erklärt BITMi-Präsident Oliver Grün in einer Stellungnahme. “Dass einzelne Datenkategorien in bestimmten Situationen unterschiedlich priorisiert werden können, ist aus unserer Sicht akzeptabel. Voraussetzung dafür ist aber, dass es innerhalb dieser Datengruppen keine Ungleichbehandlung geben darf und der Eingriff in die Netzneutralität notwendig ist”, so Grün weiter.

Kritisch sieht der BITMi allerdings die Tatsache, dass die Datenkategorien für Eingriffe in die Netzneutralität noch nicht abschließend festgesetzt sind. Er hofft auf eine “baldige und restriktive Regelung” für Spezialdienste, die im Bedarfsfall priorisiert werden dürfen. “Spezialdienste sollten nur für bestimmte, klar umrissene Bereiche angeboten werden, und nicht als Hintertür für die Umgehung der Netzneutralität durch große Provider missbraucht werden. Und wir bedauern auch, dass durch diese Regelung falsche Anreize für Provider gesetzt werden”, so Grün.

[mit Material von Florian Kalenda, ZDNet.de]

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